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Life in bubbles oder: das „Kopf-stoßen“ genießen     

Ein lauter werdendes Pfeifen. Ein Aufprall. Blech scheppert. Glas zerspringt.

Auf dem Boden liegt ein Scheinwerfer, fast 50 cm groß – normalerweise genutzt, um Personen auf der Bühne ins rechte Licht zu setzen.

 

Ein Scheinwerfer der vom Himmel direkt vor unsere Füße fällt.

 

Zugegebenermaßen keine alltägliche Begebenheit.

 

Aber wir sind ja auch nicht Truman Burbank, der (ohne irgendeine Idee davon zu haben) seit Jahren Mittelpunkt einer Fernsehshow ist. Dessen ganzes Leben eine einzigartige Inszenierung ist. Der von Schauspieler umgeben aufwächst, erwachsen wird, sein Leben lebt. 

Der jeden Morgen zu seinen Nachbarn sagt: „Good morning! And in case I don’t see ya: Good afternoon, good evening, and good night.” (Guten Morgen! Ah, und falls wir uns nicht mehr sehen sollten: guten Tag, guten Abend und gute Nacht.)

Der erst skeptisch wird, als ihm der Scheinwerfer vor die Füße fällt. Genau genommen: vor die Füße knallt! Und der irgendwann seine Angst vor Wasser überwindet, in ein Boot steigt und aus der Stadt, in der er schon immer lebt, flieht. Fliehen will. Einen (künstlich erzeugten) Sturm übersteht. Um -„TOCK“- mit dem Boot schlussendlich gegen die Studiowand zu stoßen. Das Ende der Glaskuppel zu erreichen, unter der er all die Jahre gelebt hat. Ende der Welt. Seiner Welt. Zumindest der Welt, die er bislang kannte. 

 

Die ganze Zeit, sein ganzes Leben, hat er unter einer Glaskuppel verbracht, in einer (Achtung) Blase gelebt. Und das ist der Punkt, auf den ich eigentlich hinaus wollte. Will.

 

Denkt man nicht manchmal, dass der Scheinwerfer gleich vom Himmel sausen müsste? Gerade in den letzten zwei Jahren war doch oft genug schon der Punkt erreicht, an dem wir alle gedacht haben, das ist alles nur eine Inszenierung (bitte!) und irgendwann stoßen wir an die Studiowand und das Spiel ist beendet. Endlich.

 

…mir ist aber noch nichts vor die Füße gefallen. Bislang…

 

Und – vorausgesetzt, es ist nicht die Corona-Blase – fühlen wir uns ja eigentlich meistens auch ganz wohl in unseren „Bubbles“. Haben uns gut eingerichtet. Wir lesen Bücher, die uns gefallen. Schauen Filme, die wir mögen. Essen am liebsten Gerichte, die nach unserem „gusto“ sind. Daran ist ja auch so ganz grundsätzlich erst einmal nichts verkehrt. Passt ja. Uns geht es doch gut damit! (Und das wollen wir schließlich alle: dass es uns möglichst gut geht. Und was wir dafür tun können, das tun wir. Oder eben nicht. Oder nur das Gleiche. Immer wieder.)

 

Das ist auch nichts, was wir „erfunden“ haben. Kein spezifisches Merkmal unserer Zeit. Schauen wir zum Beispiel einmal in die Kunstgeschichte:

Da gab es doch tatsächlich Ende des 19. Jahrhunderts ein paar ziemlich verrückte Maler:innen, die mehr wollten als „nur“ das zu Malen, was sie vor sich sahen. Die sich mit dem Licht, dem Schatten, den Farben, der Farbwirkung, der Bewegung und so vielem mehr beschäftigten. Und denen das bisherige „akademische“ Malen einfach nicht ausreichte, um ihre subjektive Wahrnehmung in einem Gemälde festzuhalten. Und von denen einer an einem Morgen in Le Havre am Hafen sitzt. Es ist kalt und neblig. Beim Ausatmen stehen kalte Wolken noch eine Weile in der Luft, bevor sie sich auflösen. Der Maler hat seine Staffelei dicht an der Kante der Hafenmauer aufgebaut. Seine Hände sind etwas klamm, immer wieder haucht er warme Luft auf sie, versucht sie vorsichtig zu bewegen und dabei den Pinsel nicht fallen zu lassen. Die Farben auf der Palette überzieht eine Haut, kaum dass er sie aus der Tube gedrückt hat. Vor ihm das Meer. Ein paar Bootchen dümpeln auf dem Wasser. Sanft werden sie von den Wellen geschaukelt. In ihnen stehen Fischer und versuchen, im ersten Morgengrauen den großen Fang zu machen. Weiter entfernt sind im sich verdichtenden Nebel größere Schiffe zu erkennen. Der Hafen erwacht langsam zum Leben. Mit der langsam aufgehenden Sonne setzt auch der Lärm des Tages ein. Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen glitzern auf dem Wasser. 

 

Na ja, und das alles soll jetzt mit der Farbe auf die Leinwand. Aber das Boot bewegt sich. Die Sonne steigt weiter am Horizont auf. Das Licht wird gleißender, verliert sein sanftes Orange. Der Nebel, der eben gerade noch alles in ein milchiges Licht gehüllt hat, löst sich auf. Es wird warm. 

 

Alles, was der Herr auf der Hafenmauer eben noch gesehen hat, ist JETZT schon vorbei. Ein flüchtiger Eindruck. Den er nur durch skizzenhaftes Andeuten auf der Leinwand einfangen kann. Rasche Pinselstriche. Farbpunkte, die sich aus der Ferne zum Gesamteindruck zusammensetzen. Impressionismus. 1874 zum ersten Mal ausgestellt, von der Kritik verrissen. Weil es nicht fertig schien. Zu flüchtig. Zu sehr Skizze, zu wenig – ja was? 

 

Wahrscheinlich hat es hauptsächlich die Sehgewohnheiten all jener nicht erfüllt, die es dort ausgestellt sahen. Sie bekamen nicht das zu sehen, was sie gedacht hatten, dass sie sehen würden. Und manche von ihnen fühlten sich wohl ziemlich auf den Schlips getreten. Das war man einfach nicht gewohnt! Künstler:innen, die nicht den akademischen Stil pflegten, sich nicht nach den klassischen (antiken) Vorbildern orientierten. Die eben Impressionen einfingen und nicht mythologische Szenen darstellen. Heute für uns kaum noch vorstellbar, dass tatsächlich Claude Monets „Impression, soleil levant“ für Kritzelei befunden, die Impressionist:innen als Schmierfinken bezeichnet wurden. 

 

Unsere „Blase“ ist heute eine andere. Wir haben uns weiterbewegt. (Wir im Sinne von: die Generationen von Menschen seither.) Mehr gesehen. Zum Glück. Den durch alles Neue, was wir kennenlernen dürfen, erweitert sich der Horizont. Unser Horizont. Ja, wir stoßen dabei auch manchmal gegen eine Wand. Aber auch bei Truman Burbank gab es eine Tür in dieser Wand, die es ihm ermöglichte, die bisherige Blase (in dem Fall sein ganzes Leben) zu verlassen.

 

Und ist Kunst nicht eine wunderbare, vielfältige Möglichkeit, dieses „gegen die Wand stoßen“ sogar zu genießen?! Damit meine ich durchaus nicht nur die Malerei, sondern die Bandbreite, die „die“ Kunst uns zu bieten hat. Nehmen wir die Musik: auch hier bringen ungewohnte Klänge neue Anreize. Das Buch, das wir empfohlen bekommen, aber nie gelesen haben: vielleicht ist es ja doch überraschend gut? Eine Ausstellung mit einer:m unbekannten:r Künstler:in? Wunderbar! Hin da! Kann ja sein, das ist der:die neue Lieblingskünstler:in! 

 

In unserer „Bubble“ ist es bestimmt bequem. Und Neues oder Anderes zu hören manchmal unbequem. Sogar unangenehm. Aber entstehen nicht gerade durch diese Reibung auch wieder neue Funken, neue Ideen? Energie! 

Kürzlich habe ich irgendwo den Vorschlag gelesen, 2022 zum Jahr der „ersten Male“ zu machen. Vielleicht kann ja auf die potenzielle Liste dafür auch die ein oder andere Kunstausstellung? Raus aus der gewohnten Kunstblase, auf zur Entdeckung von neuen Stilen, Künstler:innen, Themen, allem! Einfach aus Freude daran, dass wir jederzeit die Tür aufmachen können. 

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