Lügen über meine Mutter
Daniela Dröscher
Kiepenheuer & Witsch
448 Seiten
Lange habe ich kein Buch mehr so schnell durchgelesen. Ich saß im von Hamburg nach Freiburg und war festgesaugt von und in der Geschichte von Ela und ihrer Mutter. Daniela Dröscher schreibt in „Lügen über meine Mutter“ über ihre eigene Kindheit. Und ihre Mutter. Eigentlich ihre ganze Familie. Und es fühlt sich an, als würde sie nebendran sitzen und ihre Geschichte erzählen. Schonungslos, echt und sehr reflektiert – sich zu entziehen ist schwer.
Die Zeitreise führt uns zurück in die 1980er Jahre in einen kleinen Ort im Hunsrück, wo Ela gemeinsam mit ihrer Familie im Haus der Großeltern lebt. Was sich zunächst wie ein harmonisches Familienstück anhört, gewinnt bald an Tiefe und lässt hinter die scheinbare Idylle blicken. Der Vater, der sich durch das Gewicht und Aussehen der Mutter in seinem persönlichen und beruflichen Weiterkommen beschränkt fühlt und der zu widerlichen Maßnahmen greift, um seine eigene Welt geradezurücken. Die Mutter, die zunächst die Drangsalierungen des Ehemannes über sich ergehen lässt, berufstätig ist, „nebenbei“ zwei eigene und ein Pflegekind erzieht und begleitet, die eigenen Eltern pflegt… und im Laufe der Geschichte Stück für Stück die Enge des Käfigs verlässt und zunehmend einen eigenen Weg findet. Begleitet von Ela, der Tochter und von uns als Leser:innen. Teilweise in einer Art Flashback (zumindest für alle, die selbst die 1980er erlebt haben) hören wir die Geschichte, sehen sie und (so ging es zumindest mir) werden immer wütender und zugleich hilfloser. So vieles erscheint einerseits vertraut und bekannt und holt uns eng an die Protagonist:innen heran, um uns im nächsten Moment mit aller Grausamkeit wieder abzustoßen…
Und vielleicht ist es genau dieses voyeuristische Moment, das uns fasziniert und teilhaben lässt und uns über uns selbst erschrecken lässt, wenn wir uns bei genau jenem Zuschauen ertappt fühlen.
FAZIT: Leichte Kost ist dieser Roman von Daniela Dröscher nicht, auch wenn er zunächst so daherkommt. Mich hat er gepackt, vielleicht hier und da an das eigene Aufwachsen erinnert und wütend gemacht. Auf so vieles! Durch „Lügen über meine Mutter“ – meiner Meinung nach völlig zurecht für den Deutschen Buchpreis nominiert - wird ein großer, wichtiger und bislang viel zu wenig beleuchteter Teil des (weiblichen) Alltags in den 1980er beschrieben, werden Themen angesprochen, die allzu lange verdrängt, verharmlost und versteckt worden sind. Und so ist die sehr persönliche Geschichte von Daniela Dröscher zugleich ein wesentlicher Bestandteil der jüngsten Alltags- und Sozialgeschichte.
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