· 

Ohne Lücken wäre das Zebra ein Pferd  

 

Auf geht’s, wir verreisen! ...zumindest in Gedanken... Unser kleiner Gedankenausflug führt uns heute nach Japan. 

 

Schon bevor wir im Herbst 2017 das Land besucht haben, fand ich vor allem die japanische Architektur und ihren Bezug zu den Traditionen und der Kultur des Landes unglaublich beeindruckend. Architekt:innen wie Kazuyo Sejima, Ryue Nishizawa, Kenzo Tange und natürlich Tadao Ando begeistern mich ebenso wie die Künstler:innen und Designer:innen Yayoi Kusama, Isamu Noguchi oder Shiro Kuramata. Ich weiß, das waren jetzt einige Namen – ich habe alle mit Links hinterlegt, denn alle hier vorstellen würde doch etwas den Rahmen sprengen. Meine Neigung zu längeren Texten ist ja bekannt! Außerdem könnte ich die Liste noch fortsetzen, es gibt noch viiiiiel mehr inspirierende Persönlichkeiten aus dem „Land der aufgehenden Sonne“. 

 

Wo war ich stehengeblieben? Ach so, ja, bei unserer Reise nach Japan. Was ich vorher schon beeindruckend und faszinierend fand, hat sich durch den Aufenthalt noch verstärkt. Und ich möchte auch – wenn es sich denn dann wieder umsetzen lässt – gern einmal wieder hin. Noch mehr sehen, noch mehr kennenlernen, noch tiefer eintauchen. 

Viele Dinge sind mir sehr positiv im Gedächtnis geblieben, vor allem die unglaubliche Freundlichkeit der Menschen. Immer. Überall. Und die Sauberkeit. Wahnsinn! Auf unserer Rundreise sind wir an einigen Raststätten (und deren sanitären Einrichtungen) gewesen, die tatsächlich so sauber waren, dass man vom Boden hätte essen können. Nicht das ich den Wunsch verspürt hätte. 

 

Und noch etwas ist nachhaltig in meinem Kopf geblieben: Das große Bedürfnis nach etwa acht oder zehn Tagen unserer Reise nach einem gesalzenen Lebensmittel. Nicht mehr Sojasauce oder dergleichen. Einfach nur Salz. Na gut und vielleicht Pfeffer. Nothing more, nothing less. Gestillt im Übrigen durch Pommes aus dem Automaten (!), heiß und fettig und vor allem: salzig!

 

Viel ist im Kopf geblieben. Viel gilt es noch zu entdecken. Da wäre also schon einmal eine Lücke. Die aber nicht – Mut zur Lücke – eine bleiben soll, sondern die ich gerne füllen möchte. Aber wie komme ich auf die Lücke und zum Appell, diese genauso bestehen zu lassen. Durch (tadaaaaah und Trommelwirbel) natürlich die japanische Kultur. Da ist nämlich die Lücke, das Leere mindestens genauso bedeutsam wie das „Gefüllte“ oder auch „Ausgefüllte“. Denn ist es nicht so, dass wir ohne „leer“ kein „voll“ kennen?! 

 

Der japanische Begriff für Lücke oder auch Pause ist „ma“. Er wird verwendet im Wort „tokonoma“, das die Nische in einem Raum bezeichnet – aber genauso kann es auch der Sicherheitsabstand zwischen zwei Kämpfern sein. In der japanischen Kultur meint es aber so viel mehr als „nur“ das. Es ist der Begriff für ein Konzept, das Konzept des „negativen Raums“. Der mindestens genauso wichtig ist wie... Tja, und wie nennt man jetzt das Gegenstück. Positiver Raum? Nein, das ist natürlich Quatsch. 

Es ist einfach der „Raum“. Also eigentlich das, was wir selbstverständlich wahrnehmen, bewohnen, nutzen. Raum. Und mit negativem Raum ist dann nicht etwas Schlechtes gemeint, sondern einfach eben 0. Eine Lücke. Nichts. 

 

Vielleicht verdeutlicht ein Beispiel es ein bisschen besser. Ein Zebrastreifen vielleicht. Wäre da nicht zwischen den weißen Linien eine Aussparung, gäbe es sie ja nicht. Dann wären die Linien keine Linien, sondern eine Fläche. Ohne Lücken wäre das Zebra ein Pferd. 

 

Das lass ich jetzt einfach mal so stehen. 

 

Anderes Beispiel und damit zurück zur Architektur: Die Lücken (Fenster, Balkone, Türen) machen ein Gebäude erst aus. Ohne diese wäre es. Ein Klotz.

 

Es braucht das Negative, damit das andere überhaupt sein kann. Wie ein Musiknote, die die anschließende Pause braucht. Ohne dunkel kein hell, ohne kaputt kein ganz, ohne leer kein voll. (Diese Liste ließe sich fortsetzen, aber ich lass mal die Lücke „zum Selbstfüllen“.)

 

Streng genommen braucht „ma“ aber eigentlich kein „Gegenüber“, um zu wirken. Es kann auch für sich stehen. Zum Begreifen von „ma“ ist es aber glaube ich einfacher, wenn man etwas dagegen setzt. Einen Kontrast bildet. 

 

In unserer Kultur sind wir sehr stark darauf geprägt, vor allem den Kontrast wahrzunehmen. Der negative Raum, ma, kommt eigentlich nicht vor. Oder wir schenken ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Dabei ist der negative Raum tatsächlich das Wesentliche. 

 

In der Malerei führt dies zu bewusstem „Leer-lassen“. Cézanne zum Beispiel hat einige Leinwände nicht komplett  grundiert. Man könnte annehmen, er sei einfach schlampig gewesen und hätte seine Arbeit nicht gründlich genug ausgeführt. Es ist aber eine ganz bewusste Entscheidung gewesen. Denn nur so nimmt man ja das andere – in dem Fall die bemalte Leinwand – wahr. Es muss nicht alles „voll“ sein. Dann eben doch der „Mut zur Lücke“!

 

Es spielt auch ein bisschen der Aspekt des „wabi-sabi“ hier mit rein.

 

Nein, nichts zu essen. Das ist wasabi, der japanische Meerrettich. 

 

Wabi-sabi ist das perfekte Unperfekte. Das, was durch Macken, Kratzer, Lebensspuren,... etwas überhaupt erst ausmacht. Es lebendig macht. Interessant. Nicht glatt und kalt und langweilig. 

Aber eben: ohne glatt kein rau. Oder: ohne Kratzer nimmt man das Glatte nicht wahr. Ohne das Konzept des negativen Raums kein Raum.

 

Ohne Lücken ein Pferd. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0