Problem? Der Raum? Oder der Mensch? Die Architektur?
Ich habe zugegebenermaßen das Zitat des Schweizer Architekten Justus Dahinden (1925-2020) etwas verkürzt – die Fortsetzung des Satzes tut hier allerdings momentan nichts zur Sache. [1] Deshalb hier auch gleich wieder zurück zum eigentlichen Thema: dem Raum. Um den soll es gehen. Klingt einfach, fast banal… Aber wenn wir uns einmal Gedanken darüber machen, was das eigentlich ist, ein Raum, dann wird es tatsächlich gleich ein wenig kompliziert…
Also, bevor wir Probleme wälzen: was ist denn ein Raum?
Ein Teil eines Gebäudes. Zum Beispiel, um darin zu Wohnen. Hat Wände, Boden und Decke. Ist begrenzt. Oder eben nicht eingegrenzt, denken wir an den Weltraum, dann ist dieser genau das Gegenteil von dem, was ich gerade zwei Sätze vorher geschrieben habe. Eine unbegrenzte Ausdehnung. Oder ist es gar luftleerer Raum?
Fest steht, Raum ist mehr!
Wir könnten den Raum gar als ein Konzept bezeichnen. In der Architektur nämlich ist der Raum nicht nur ein physischer Bereich, sondern auch ein psychischer und sozialer Faktor, der die Erfahrungen und Emotionen der Menschen prägt, die ihn nutzen.
Ein gut gestalteter Raum kann ein Gefühl von Freiheit, Klarheit und Verbindung zur Umwelt vermitteln. Dabei ist es wichtig, dass der Raum die Bedürfnisse und Anforderungen seiner Nutzer erfüllt und ihnen ein angenehmes Wohn- oder Arbeitsumfeld bietet. Die Gestaltung des Raumes hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie dem Zweck des Raumes, dem verfügbaren Platz und den äußeren Bedingungen, wie Licht, Klima und Lärm.
Ein wichtiger Aspekt der Raumgestaltung ist die Proportion und Größe des Raumes. Die Größe des Raumes sollte im Verhältnis zur Anzahl der Menschen stehen, die ihn nutzen, und die Proportionen sollten harmonisch sein, um ein angenehmes Raumgefühl zu erzeugen. Auch die Raumaufteilung und -funktion sind wichtig, um eine klare und effektive Nutzung des Raumes zu ermöglichen.
Bleiben wir hier einmal kurz. Proportion ist ein gutes Stichwort! Und Harmonie auch, die nehmen wir gleich noch dazu. Also, Proportion ist ein Verhältnis. Ein Verhältnis zweier Elemente zueinander. In unserem Beispiel nehmen wir das Element Raum und das Element Mensch. Und damit – Helm auf – geht es auf eine Zeitreise in die Architekturgeschichte![2]
Grundlegend für die Lehre von der Proportion ist die klassische Säulenordnung. Und damit sind wir direkt bei einem Herren, von dem wir eigentlich recht wenig wissen. Das, was wir über ihn wissen, wissen wir zumeist von ihm. Es handelt sich um Vitruv, einen römischen Architekten oder auch Ingenieur, der sich zudem ganz schön viele Gedanken über Architektur gemacht hat. Gelebt hat er im 1. Jahrhundert v. Chr. – nähere Auskünfte haben wir nicht. Brauchen wir hier momentan auch nicht. Was wir brauchen, ist sein Werk. Er hat nämlich so um 30-20 v. Chr. ein umfangreiches Buch – nein: zehn Bücher – geschrieben. Das einzige Werk über die antike Architektur, das es gibt. Alles drin, was man wusste und wissen musste. „De architectura libri decem“ (= Zehn Bücher über Architektur). Und darin schreibt Vitruv über die Arbeit des Architekten, seine Ausbildung in Praxis und Theorie. Und über Architekturtheorie schreibt er selbst natürlich auch. So gibt es nach ihm für die Architektur drei Kriterien: die Firmitas (Festigkeit), Utilitas (Nützlichkeit) und Venustas (Schönheit) – alle müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Und dann kommen noch sechs weitere Grundbegriffe hinzu: ordinatio, eurythmia, symmetria, dispositio, decor und distributio. Für uns wichtig sind die ersten drei, denn sie beziehen sich auf die Proportionen in der Architektur. Maßordnung, Anmut und Einklang der Elemente untereinander.
Darüber hinaus beschreibt Vitruv (neben vielen anderen Dingen – es sind immerhin zehn Bücher!) sehr ausführlich die Säulenordnungen. Also die Beschreibung der dorischen, ionischen und korinthischen Säulen, ihren Proportionen, Schmuckformen etc. Darauf basierend entwickelt sich in der Renaissance ein Proportionssystem, in dessen Mittelpunkt die Säule als Modul steht und davon wiederum alle anderen Maße für die notwendigen Bauteile abgleitet werden.
Leonardo da Vinci hat um 1490 eine Skizze angefertigt, die einen Mann mit ausgebreiteten Armen und Beinen zeigt, der in einem Quadrat und einem Kreis steht. Homo vitruvianus, der vitruvianische Mensch. Der Name stammt übrigens nicht von da Vinci. Aber das Schema, die Proportionen des Körpers beziehen sich darauf, also auf Vitruv – et voilà, ist doch ein schöner Name!
Vitruv hat geschrieben:
„Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem Kreis die Fingerspitzen beider Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgestreckten Hände an, so wird sich die gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch angelegt sind.“[3]
Und darüber hinaus auch noch:
„Der Körper des Menschen ist so geformt, dass das Gesicht vom Kinn bis zum oberen Ende der Stirn und dem unteren Rand des Haarschopfes 1/10 beträgt, die Handfläche von der Handwurzel bis zur Spitze des Fingers ebenso viel, der Kopf vom Kinn bis zum höchsten Punkt des Scheitels 1/8 […] Vom unteren Teil des Kinns aber bis zu den Nasenlöchern ist der dritte Teil der Länge des Gesichts selbst, ebenso viel die Nase von den Nasenlöchern bis zur Mitte der Linie der Augenbrauen. Von dieser Linie bis zum Haaransatz wird die Stirn gebildet, ebenfalls 1/3 […]“[4]
Ein Proportionssystem. Ähnlich dem goldenen Schnitt. (Nein, es ist nicht der goldene Schnitt, weicht ein bisschen davon ab…).
A verhält sich zu B wie B zu C.
Proportionslehre. Mathematische Formel. In der Architektur. Der Malerei. Der Bildhauerei. Und natürlich der Natur. Und eigentlich überall. Empfinden wir als harmonisch ohne genau sagen zu können, warum. Ist einfach so. Gebaute Beispiele: die Fassade von Notre-Dame (Paris) oder das Brandenburger Tor.
Also: Proportionen stellen Verhältnisse dar. Setzen einzelne Teile in eine Beziehung zueinander. Ein Teil ist ein Modul. Module lassen sich vervielfachen, sind die Grundlage, sind der Maßstab. Nicht nur in der europäischen Kunst natürlich. Die Tatami-Matte ist so ein Modul. Das sind die Reisstroh-Matten in traditionell gestalteten japanischen Räumen (ups, da ist schon wieder dieses Wort!). Tatami haben überall in Japan leicht abweichende Größen, sind etwa 90 x 180 cm groß und dienen als Maß für die Raumgröße. Bilden die Grundlage der Proportionen. Die Maße sind angelehnt an das menschliche Maß. Somit ist der Raum proportional zum menschlichen Körper gestaltet. (Hat viel mit „Wohlfühlen“ zu tun, aber das ist ein anderer Punkt.) Der Architekt Tadao Ando (*1941) verwendet übrigens Tatami-Matten-Module für seine modernen Gebäude im Stil des Brutalismus.
Diese menschlichen Maße als Grundlage für Module und damit für Proportionen finden wird auch bei Le Corbusier (1997-1965). Er hat ein komplettes Maßsystem basierend auf den menschlichen Maßen entwickelt, den Modulor.
Noch ein Schlaubi-Schlumpf-Wort an dieser Stelle: Man nennt das Anthropometrie. Die Lehre von der Ermittlung und Verwendung der Maße des menschlichen Körpers. Letztendlich auch die Grundlage für all die schönen Normen, die uns so durch den Alltag begleiten: Konfektionsgrößen, Möbelmaße, ergonomische Arbeitsplätze, … You name it.
Zurück zum Raum.
Licht spielt natürlich auch eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung des Raumes. Es kann die Stimmung und das Ambiente eines Raumes stark beeinflussen und ein angenehmes und produktives Arbeits- oder Wohnumfeld schaffen. Natürliches Licht, um den Raum zu beleuchten und eine Verbindung zur Außenwelt herzustellen, künstliches Licht kann ebenfalls eingesetzt werden, um den Raum auszuleuchten und eine gewünschte Stimmung zu erzeugen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Raumgestaltung ist die Materialwahl. Die Auswahl der Materialien, die für den Bau des Raumes verwendet werden, beeinflusst sowohl die Ästhetik als auch die Funktionalität des Raumes. Materialien wie Holz, Stein und Stahl können beispielsweise eine warme und natürliche Atmosphäre schaffen, während Glas und Stahl einen modernen und minimalistischen Look erzeugen können.
Insgesamt ist der Raum also ein echt komplexes Konzept, das viele Faktoren berücksichtigt. (Und ich habe hier nicht alle erwähnt…)
Noch einen Gehirnaushänger zum Abschluss.
Also, wir hatten es ja jetzt von den Proportionen der Elemente zueinander. Also verschiedene Elemente = Module als Grundlage. Zusammen ein System. Im Verhältnis zueinander.
Nehmen wir jetzt Raum als Element und setzen ihn ins Verhältnis zur Zeit.
Dann.
Sind wir ganz schnell bei Einstein.
Relativitätstheorie.
Davon habe ich aber relativ wenig Ahnung und deshalb biege ich jetzt schnell wieder ab und beende diesen Ausflug durch Raum und Zeit.
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